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Der unsichtbare Schmerz

  • Autorenbild: Chiara Polverini
    Chiara Polverini
  • 25. Nov. 2024
  • 2 Min. Lesezeit

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“Tiefe Wunden schlägt das Schicksal, aber oft heilbare. Wunden, die das Herz dem Herzen schlägt, das Herz sich selber, die sind unheilbar.”*

Eine gute Freundin hat vor einigen Monaten ihren Job gekündigt. Obwohl sie mehrmals davor das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten gesucht hatte, kam diese Entscheidung für ihn wohl sehr überraschend. Was ja per se verständlich ist, irgendwie möchte man denken, (gute) Mitarbeitende würden für immer bleiben. Doch die Reaktion auf die Kündigung wurde leider für meine Freundin zu einer schmerzhaften Erfahrung: ihr Vorgesetzter hat seine Enttäuschung mit den Kolleg:innen geteilt (und dabei ausschließlich seine Perspektive berücksichtigt), er hat sie nicht mehr zu Terminen eingeladen (ohne die Entscheidung mit ihr zu teilen) und, in ihrer vorletzten Woche, hat er sie manuell aus dem Team-Verteiler genommen und sie nicht zu einem Teamevent eingeladen. Meine Freundin hat mir davon in Tränen erzählt. Sie hat zunächst versucht, dieses Verhalten einzuordnen. Sie hat sogar irgendwann bei sich die Schuld gesucht. Und sie hat den Mut aufgebracht, ihren Vorgesetzten darauf anzusprechen. Sie war nicht wütend oder verärgert. Was sie überwältigt hat, war der tiefe Schmerz, den sie durch dieses Verhalten empfunden hat. Sie hat für das Schmerzempfinden folgende Metapher verwendet: "Ich fühle mich, als ob ein Auto mich überfahren hätte”. Die Folgen dieses seelischen Schmerzes haben sich bei ihr zeitnah tatsächlich auch körperlich geäußert. 

Psychischen Schmerz (auch “sozialer Schmerz” genannt) sieht man nicht. Psychischer Schmerz ist, noch mehr als physischer Schmerz, extrem subjektiv. Psychischer Schmerz schleicht sich ein und äußert sich in einer destruktiven und limitierenden Art und Weise. Und meistens spricht man nicht darüber. Die Neurowissenschaft beweist, dass diese Art von Schmerz im Gehirn an den gleichen Stellen (anteriorer cingulärer Kortex und rechter ventraler präfrontaler Kortex) ansetzt wie der körperliche Schmerz: Seelischer Schmerz wird vom Gehirn wie körperlicher Schmerz verarbeitet. Psychologen wissen seit langem um die Bedeutung sozialer Bindungen für das menschliche Überleben und gehen davon aus, dass der Mensch ein grundlegendes „Bedürfnis nach Zugehörigkeit“ oder nach sozialer Verbundenheit mit anderen hat. Neuere Modelle haben versucht, diese Idee weiterzuentwickeln, indem sie gezeigt haben, dass ein Mangel an sozialer Bindung wie andere Grundbedürfnisse „schmerzhaft“ empfunden werden kann.**

Verletzte Menschen leiden, sie sind nicht im Stande, rational zu denken, sie können schneller krank werden und Ängste entwickeln. Das führt zu einem toxischen Arbeitsplatz und einer konfliktualen Gesellschaft. 

Was bedeutet das also für uns, für unsere persönliche wie private Beziehungen? Im Zweifel sollten wir uns immer für die freundliche Option entscheiden. Wenn aus irgendeinem Grund Freunde oder Kolleg:innen nicht eingebunden werden können, dann hilft es, darüber zu sprechen und die Entscheidung zu begründen. Transparenz und Offenheit sind nachhaltig, manipulatives und hinterhältiges Verhalten nicht. Manchmal reicht ein Lächeln, wenn es mehr sein kann, dann gern auch eine interessierte Nachfrage nach dem Wohlbefinden. Großzügigkeit und Altruismus sind nicht nur gut für unsere Mitmenschen, sondern auch bewiesene Ressourcen zur Stärkung unserer eigenen Resilienz. 


*J.W. Goethe, Stella (1775)


 
 
 

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