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Und dann habe ich verstanden, wie wichtig es ist, eine andere Perspektive einzunehmen.

  • Autorenbild: Chiara Polverini
    Chiara Polverini
  • 3. Nov. 2024
  • 3 Min. Lesezeit

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Seit 10 Jahren unterstütze ich Führungskräfte, die durch Veränderungsprozesse gehen.  Unterschiedliche Unternehmen, unterschiedliche Hierarchiestufen, unterschiedliche Reifegrade. In den letzten Jahren, in denen der Wandel unvermeidlich und in jedem Aspekt unseres Lebens spürbar geworden ist, nehmen Führungskräfte ihre Rolle mit einem stärkeren Verantwortungsbewusstsein und einer größeren Dringlichkeit wahr. Sie suchen oft proaktiv nach mehr Unterstützung. Transformationsprozesse werden nicht mehr nur als „nice to have“ oder als Folge eines großzügigen Budgets wahrgenommen. 



Kürzlich hatte ich während eines Workshops für Führungskräfte, die in ein neues Arbeitsumfeld wechseln werden, einen echten Aha-Moment. 

Ich hatte die Teilnehmende gebeten, sich auf der Veränderungskurve* zu positionieren, die ich zuvor auf dem Boden aufgebaut hatte (wenn der Raum es zulässt, ist es definitiv von Vorteil, alle Skalierungsübungen physisch durchzuführen - der Körper erlebt die gewählte Position viel intensiver, als wenn er sie nur kognitiv wahrnimmt). Nachdem jede*r seinen*ihren Platz eingenommen hatte, erzählten die Führungskräfte, warum sie sich dort positioniert hatten, wie sie dorthin gekommen waren und was sie glaubten, dass sie brauchen würden, um auf der Kurve weiter nach oben zu kommen. Im zweiten Teil der Übung ging es darum, darüber nachzudenken, wo sein*ihr Team sich positioniert hätte, wenn es darum gebeten worden wäre. Die meisten der anwesenden Führungskräfte konnten eigentlich nur raten. Keiner konnte die Frage wirklich beantworten. 


Der Grund dafür? Niemand hatte das Team jemals gefragt! Wir kamen in ein sehr ehrliches und transparentes Gespräch. Ich war neugierig: Warum hat niemand das Team gefragt? Aus Zeitmangel? Fehlende Gelegenheit? Die Antwort, die die meisten gaben, war überraschend: Sie haben das Team aus Angst nicht gefragt. Was wäre, wenn sich das Team auf dem Boden der Kurve positioniert hätte? Was wäre, wenn sich das Team durch die bevorstehende Veränderung ängstlich, wütend, demotiviert fühlen würde? Und wieder einmal wurde mir klar: Diese brillanten Leute, die täglich exzellente Leistungen erbringen und mit hervorragenden Fähigkeiten zum Erfolg des Unternehmens beitragen, sind in ihrer Rolle als Führungskraft schlicht und einfach überfordert. Eine Führungskraft zu sein bedeutet nicht, auf jede Frage eine Antwort zu haben; eine Führungskraft zu sein bedeutet nicht, in jeder Situation genau zu wissen, was zu sagen ist; eine Führungskraft zu sein bedeutet nicht, alle glücklich zu machen. Führen bedeutet, Fragen zu stellen; Führen bedeutet, dem Team einen sicheren Raum zu bieten, in dem es seine Sorgen mitteilen kann; Führen bedeutet, Informationen bereitzustellen, auch wenn diese nicht vollständig sind. Eine Führungskraft zu sein bedeutet, Emotionen im Team zuzulassen und zu akzeptieren, dass einige Teammitglieder vielleicht noch nicht so weit sind, wie er*sie es bereits ist. Niemanden zurückzulassen bedeutet nicht, eine maßgeschneiderte Lösung für alle zu haben - es bedeutet, sich die Zeit zu nehmen, zuzuhören und anzuerkennen, auch wenn wir anderer Meinung sind. 


Nach unserem Gespräch teilte ein Teilnehmer der Gruppe mit, dass er nie auf diese Weise über seine Rolle nachgedacht habe. In Leitungsfunktion habe er sich immer dafür verantwortlich gefühlt, alles zu wissen, Antworten und Lösungen  liefern zu müssen. Dies habe ihn nicht nur unter einen furchtbaren Druck gesetzt, sondern sei auch so weit gegangen, dass er Gespräche mit dem Team vermieden habe, die möglicherweise zu noch mehr Fragen - und keinen Antworten - geführt hätten. Und sein Aha-Erlebnis war, dass die Berücksichtigung der Perspektive des Teams ihn eher entlastete als belastete.


Mit seinem Aha-Erlebnis kam auch meins: Wir haben oft Angst zu fragen, weil wir denken, dass dann eine Antwort oder eine Empfehlung erwartet wird. So ist es aber nicht! Einen Gedanken, eine Angst, eine Sorge oder auch eine positive Idee zu artikulieren, hilft uns, bestimmte Gefühle zu benennen. Dies ist der erste Schritt, um das Nervensystem zu beruhigen, uns selbst zu regulieren und zu einer rationaleren Denkweise überzugehen. Niemand wird eine Antwort erwarten - vor allem dann nicht, wenn wir mutig und verletzlich genug sind zu sagen, dass wir (noch) keine haben. Aber wenn man Menschen erlaube, sich zu äußern, sich mitzuteilen und Themen anzusprechen, schaffen wir ein positives Umfeld, in dem sich die Menschen wohl, gehört und sicher fühlen. Und damit werden Produktivität, Kreativität und Engagement steigen.



* Die Change-Kurve von Kübler-Ross ist eines der am häufigsten verwendeten Instrumente im Change Management. Sie beschreibt die 6-7 Phasen, die Menschen bei Veränderungsprozessen in der Regel durchlaufen.


 
 
 

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